Die Freiheit der Planung

Essay
25.10.2022 - Reiner Nagel

Was haben fahrerlose Autos und Pakete ausliefernde Drohnen mit der Zukunft der Stadt zu tun? Wenig, schreibt der Architekt und Stadtplaner in seinem Essay. es sollte uns in unseren Utopien vielmehr darum gehen, lebenswerte Städte mit viel öffentlichem Raum für Austausch zu schaffen.

Wenn Städte und gebaute Räume heute so etwas wie ein Freiheitsversprechen in sich tragen, so manifestiert es sich in öffentlichen Räumen. Sie sind nicht nur die dritte Dimension zu Straßen- oder Platzflächen, sondern ein ständig auf uns direkt und indirekt wirkender Einflussfaktor: Räume prägen Menschen.

In einer sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft übernehmen öffentliche Räume und städtebaulich intakte Quartiere die Funktion sozialer und gemeinschaftsbildender Orte. Dies ist uns durch die Einschränkungen in der Corona-Pandemie bewusst geworden: Die Sehnsucht nach Parks, Plätzen und Natur in der Nähe haben uns den Wert des Öffentlichen für unsere freie Entfaltung neu vor Augen geführt.

Öffentliche Räume sind in der europäischen Stadt umfassend – vom Platz über die Straße, die Parkanlage, die Gewässer bis zu den Innenräumen unserer öffentlichen Gebäude. Sie sind direkte Funktionsträger unserer Demokratie, bis hin zum grundgesetzlich garantierten Versammlungsrecht. Schon der italienische Ingenieur, Architekt und Kupferstecher Giovanni Battista Nolli hat 1748 in seiner „Nuova topografia di Roma“ die öffentlichen Straßen, Plätze und Parks gleichwertig zu den zugänglichen Innenräumen von Höfen, Kirchen und Verwaltungsbauten kartiert. So funktioniert Stadt bis heute. Bahnhöfe sind beispielsweise die öffentlichsten Gebäude unserer Gesellschaft, oft allerdings in bedauernswertem Zustand. Und die großen Foyers moderner Kulturbauten werden immer mehr zu Treffpunkten für digitale und analoge Kommunikation.

Demokratie braucht diese Orte des offenen Austauschs, die nicht an private Hausrechte und Wirtschaftlichkeit geknüpft sind. An dieser Freizügigkeit machen sich gleichzeitig Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt fest. Auch wenn Städte ihr Tafelsilber an Bauflächen häufig schon verkauft haben, verfügen sie dennoch über ein Drittel bis (in Berlin) zur Hälfte ihres Stadtgebietes an Straßen, Plätzen, Grünanlagen, Wald- oder Wasserflächen. Und mit ihnen besitzen alle Bürgerinnen und Bürger uneingeschränkt zugängliche Räume für Bewegung, konsumfreien Aufenthalt, Sport, Freizeit und Erholung. Politik und Verwaltung haben hier neben dem öffentlichen Planungsrecht, das hoheitliches Handeln und langwierige Verfahren darstellt, vor allen Dingen die Möglichkeit über flexible Nutzungs- und Sondernutzungsverträge privatrechtlich zu steuern. Dies ermöglicht schnelle, individuelle und variable Entscheidungen.

Haben wir Vorstellungen, wie wir unser Stadtmanagement in Zukunft gestalten? Und wenn ja, wie sieht diese Utopie aus? Denken wir an Quartiere mit gemischter Nutzung und lebendige Nachbarschaften, an soziale Begegnungen beim Einkaufen, in Bibliotheken und Restaurants? An aktive kulturelle und spirituelle Angebote?  An grüne und klimaangepasste Städte? So geht es mir jedenfalls und ich bin immer wieder irritiert, wenn unter dem Titel „Stadt der Zukunft“ von selbstfahrenden Fahrzeugen, smarter Gebäudetechnik oder der Zustellung von Onlinebestellungen aus der Luft die Rede ist. Die baulichen Konsequenzen dieser Zukunftsaussichten sind doch eher dystopisch: Wegeprivilegien für fahrerlose Autos, Drohnenstress und Feinstaub, Gebäude „außer Betrieb“, weil uns die technischen Anlagen überfordern und der Wartungsdienst in der „Hotline“ eingefroren scheint. In Diskussionen zu zukünftigen gesellschaftlichen Lebensformen wird das Bauliche nicht zu Ende gedacht. Ideen rund um das Wohnen und Arbeiten innerhalb desselben Gebäudes, Wohnen in Gemeinschaft oder nutzungsdiverse Quartierskonzepte müssen stärker in unsere städtebaulichen und architektonischen Planungen einfließen.

Städtebau ist planungsrechtlich die Art und das Maß der Nutzung und deren infrastrukturelle Erschließung. Ohne Erschließung – und das meint die Anfahrbarkeit für den Individualverkehr, die Feuerwehr oder Müllfahrzeuge – darf gar nicht gebaut werden. Und das gilt auch für jene, die die „Freiheit“ durch das Auto vor der Tür oder in der Tiefgarage gar nicht brauchen oder wollen.

Tatsächlich ist unsere bis heute anhaltende Planungspraxis dominant auf eine beruflich mobile Bevölkerung mittleren Alters ausgerichtet. Andere Nutzergruppen wie Radfahrende, Fußgängerinnen und Fußgänger, Menschen mit Behinderung und alte Menschen werden strukturell eher nachrangig berücksichtigt. Noch schlechter sieht es für Kinder aus, die ohne Begleitung durch Erwachsene ins echte Leben wollen. Hier wirkt sich der Rückzug ins Private, das Bau- oder Wohngebiet letztlich als Einschränkung der Bewegungsfreiheit aus.

Baukultur bezieht sich deshalb immer auf den menschlichen Maßstab und die Bedürfnisse der Schwächeren. Werden wir ihnen gerecht, stimmen auch die gestalterischen Werte. Selbst der in Deutschland durch seine autogerechten Großprojekte bekannte Wohnungsbaukonzern „Neue Heimat“ hatte bereits 1979 sein Monatsmagazin betitelt: „An die Stelle der Auto-Stadt muss die Kinder-Stadt treten“. Passiert ist allerdings wenig – oder, was wahrscheinlicher ist, wurde einfach nicht gesehen oder für möglich gehalten, dass eine kindgerechte Stadt eine Messlatte für eine lebenswertere, offene Stadt für alle ist.

Es ist ausgeschlossen, dass diese Utopie von selbst eintritt. Im Gegenteil. Wir müssen sie durch aktives Handeln, Planen, Bauen und Umbauen selbst gestalten. Hier ergibt sich für Planende aber auch für Initiativen und Bauherrschaft ein bedeutendes Feld individueller und kollektiver Freiheit. Sie liegt in der Kreativität, Phantasie und utopischen Vorstellungskraft räumlicher Planung. 1953 hat Max Frisch, Architekt und Schriftsteller, in seiner „Glosse zur schweizerischen Architektur“ so etwas wie das Grundmotiv für die Möglichkeiten einer handelnden Selbstwirksamkeit formuliert: „Die letzte Chance individueller Freiheit, die uns verbleibt, ist in der Planung“. Dabei dachte er sicher nicht an die sich durch Normen und regulative Rahmenbedingen immer weiter einschränkende Verwaltungsrealität unserer Städte, sondern an die Möglichkeiten aktiver Gestaltung. „Die schöpferische Planung personifiziert sich nicht in einem Polizisten, sondern in einem Pionier; sie eröffnet Möglichkeiten, sie befreit, sie begeistert, und ihre Macht ist die einzig annehmbare, nämlich die Macht der produktiven Idee“.

Wollen wir öffentliche Räume, Mischung und Lebendigkeit, so erfordert das einen systematischen Umbau der Stadt zu einer Stadt der Zukunft. Das wird keine neue Modellstadt sein, sondern eine die bestehende Stadt verbessernde und verschönernde Erneuerungsstrategie. Von ressourceneffizientem Umbauen über energetische Sanierung bis zur doppelten Innenentwicklung, also sowohl baulicher Verdichtung als auch der Entwicklung höherwertigerer Grünflächen. Wenn es uns gelingt durch viele kleine Schritte in der bestehenden Stadt baukulturelle und lebensweltliche Verbesserungen zu bewirken, ist das ein großer Schritt in Richtung einer utopischen Stadt der Zukunft.

Reiner Nagel ist Architekt, Stadtplaner und Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur. Seit 2021 ist er außerdem Vorstandsmitglied der Urania.

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