Text | Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
Die unausweichliche Tragik moralischer Kompromisse
Warum wir nicht mit guten Gewissen aus der aktuellen Lage herauskommen
13.03.2023
Véronique Zanetti
Sind Kompromisse in der Moral tabu?
Immer lauter werden die Stimmen aus Politik und Wirtschaft, die davor warnen, dem Kampf gegen das Corona-Virus jede andere Rücksicht zu opfern. Es drohe ein Kollaps der Wirtschaft und eine Periodisierung der Pandemie-Wellen, hinter der andere notwendige medizinische Eingriffe ins Hintertreffen gerieten, ja, wegen der sozialen Isolation, eine Zunahme gesellschaftlicher Spannungen, die am Ende noch mehr Menschenleben kosten werde als das Virus selbst. Auf der anderen Seite wissen wir, dass eine Lockerung der Maßnahmen zu einem rapiden Anstieg der Covid-19-Erkrankungen führen und das Gesundheitswesen in Deutschland innerhalb kurzer Zeit mit Schreckensszenarien wie in Italien überziehen würde, wo ältere und vorerkrankte Patienten von immer knapper werdenden Beatmungsgeräten abgehängt werden.
Sowohl innerhalb der Medizin als zwischen den verschiedenen Kräften der Gesellschaft entstehen dilemmatische Situationen. Das sind solche, in denen Konflikte zwischen moralischen Prinzipien unlösbar werden: Egal was man tut, man macht schließlich etwas Falsches.
Ohne die Tragik der Stunde zu unterschätzen, sollten wir allerdings nicht zu schnell mit diesem Begriff hantieren, sondern uns einen Augenblick Zeit nehmen zu einer grundsätzlichen Besinnung. Moralische Dilemmata ergeben sich aus unlösbaren Konflikten (wie z. B. dem obigen). Nicht alle schweren oder gar tragischen Konflikte sind unlösbar, auch wenn es für sie keine ‚gute‘ Lösung gibt. Man kann nämlich auf Kompromisslösungen ausweichen. Der Kompromiss teilt mit dem Dilemma den Anlass: Es besteht ein Konflikt zwischen Ansprüchen oder Verpflichtungen, der nicht durch Abwägung zu lösen ist. Gäbe es eine Lösung, die alle Parteien zufrieden stellt, wäre ein Kompromiss nicht erforderlich. Während dilemmatische Situationen uns aber keinen Ausweg lassen, bieten Kompromisse eine zweitbeste Lösung an. Sie ist nicht diejenige, die man für richtig hält. Eine bessere ist aber nicht in Sicht.
In der Moral Kompromisse zu schließen, gilt allgemein als verpönt: Als Verrat an Werten oder Prinzipien. Man erwartet von moralischen Personen, dass sie für ihre Überzeugung, wenn sie gut begründet ist, einstehen. Die heldenhaften Figuren aus Literatur oder Geschichte sind diejenigen, die sich nicht verbiegen lassen, egal, was geschieht. Personen von Integrität sind diejenigen, die sich an die Ziele halten, die sie sich gesetzt haben, oder an Versprechen, die sie anderen gegeben haben, auch unter für sie ungünstig gewordenen Bedingungen halten.
Gleichwohl sind Kompromisse in der Politik, in rechtlichen Entscheidungen und in der Alltagspraxis oft unvermeidlich, ja sogar ein Zeichen von konstruktiver Bereitschaft, Gesellschaftsprobleme friedlich zu lösen. In der Moral hingegen, schließt man keine Kompromisse ohne sie zu bedauern. Das gehört zur Tragik der Situation.
Es ist eine verbreitete Vorstellung, dass Kompromisslösungen dann gut oder fair seien, wenn die Parteien sich „in die Mitte“ treffen. Jede Partei muss dabei auf etwas verzichten, das sie als wesentlich betrachtet. Kompromisse können darum weh tun, und das umso mehr, je näher sie dem Kern moralischer Überzeugungen kommen, also dem, was man für gänzlich unverhandelbar hält.
Ein Paradebeispiel bietet die humanitäre Intervention im Krieg. Menschen in Not muss geholfen werden. Diese Hilfe wird jedoch, wo sie mit militärischen Mitteln erfolgt, unweigerlich mit dem Töten von Zivilisten erkauft. Und so entsteht, was man auf den ersten Blick als eine Kollision von Pflichten beschreiben kann: der Pflicht, Menschen in Not zu helfen, die sich nicht selbst helfen können, und der Pflicht, Unschuldigen keinen Schaden zuzufügen. Die Theorie des gerechten Krieges gibt der Ethik das Prinzip der Verhältnismäßigkeit an die Hand. Dieses soll helfen herausfinden, ob die Aufhebung einer kardinalen Pflicht (Verbot der gezielten Tötung von Zivilisten im Krieg) durch das Ziel gerechtfertigt werden kann. Die Lehre vom gerechten Krieg versucht die Spannung dadurch zu entschärfen, dass sie 1) zwischen den absichtlichen und den nichtintendierten Folgen einer Handlung unterscheidet (die so genannte Doktrin der Doppelwirkung) und 2) durch die Abwägung zwischen Kosten und Gewinn eine Grenzlinie zieht: Sind die Kosten unverhältnismäßig hoch – werden z. B. voraussichtlich zu viele Unschuldige zu Opfern – , ist die Handlung nicht gerechtfertigt. Allerdings läuft diese doppelte Strategie nicht nur Gefahr, viel zu hohe „Kollateralschäden“ zuzulassen. Ihr Ansatz ist auch theoretisch fragwürdig. Denn er will das Immunitätsprinzip, das Unschuldige schützt, ernst nehmen, stellt es aber gleichzeitig durch quantitative Überlegungen in Frage. Man wird deshalb nicht zu Unrecht den Zynismus und die Immoralität eines Kalküls anprangern, der das Töten einiger für die Rettung anderer instrumentalisiert. Aus der Sicht einer Prinzipienethik ist diese instrumentelle Rechtfertigung des Tötens moralisch unvertretbar.
Eine ähnlich grundsätzliche Spannung entsteht bei der Frage, wie weit die Gesundheitsmaßnahmen bei der jetzigen Pandemie die einzelnen individuellen Freiheiten auf der einen und die ökonomischen Interessen eines Landes auf der anderen einschränken dürfen. Auf die Frage, wie viele „Opfer“ die Gesellschaft für die Rettung der Corona-Patienten bringen soll, scheint es – zumindest aus der strengen Perspektive einer Pflicht- oder Prinzipienethik – nur eine Antwort zu geben: Die Rettung menschlichen Lebens übertrumpft wohl als höheres Gebot der Medizin die wirtschaftlichen Rücksichten. Der Vorwurf, man opfere ältere und gesundheitlich fragile Patienten sozialen und wirtschaftlichen Interessen, klingt ungeheuerlich.
Viele moralphilosophische Autoritäten sprechen von Abwägung. Der Begriff greift auf eine Metapher zurück, die glauben macht, man habe mit einer Waage zu tun, deren beide Schalen ungleiche Gegenstände tragen, die sich aber über ihr Gewicht dennoch vergleichen, eben gegen einander abwägen lassen. Kündet der Zeiger ein Ungleichgewicht, weil die ‚Kosten‘ höher als der ‚Gewinn‘ sind, sollte man von dem Handel Abstand nehmen. Um aus dem Bild wieder in unser Beispiel zurückzuspringen: Rechnet man hingegen mit einer ausgeglichenen Bilanz, gibt die Abwägung den Weg frei zum Handeln.
Nun darf man die Sache, um die es geht, nicht schönreden: Das Leben von Personen lässt sich nicht an wirtschaftlichem Nutzen messen, auch wenn Ökonomen uns das gerne glauben machen wollen. Zumindest nicht aus der Perspektive einer Pflichtethik. Gibt es nicht, wie auf der Waage, ein gemeinsames Maß für die gegeneinander abzuwägenden Güter, sind sie unvergleichbar, lässt uns die Metapher des Abwägens oder des Sich-in-der- Mitte-Treffens im Stich.
Die Verfassungsrechtler haben für diesen Notfall ein Mittel zur Hand: Tiefgreifende Einschränkungen müssen verhältnismäßig sein. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein bekanntes Instrument rechtlicher Schlichtung. Es wird angewendet, wenn Rechte, besonders Grundrechte, zugunsten anderer damit konfligierender Rechte oder öffentlicher Güter eingeschränkt werden. Es dient dazu herauszufinden, ob die Einschränkung gerechtfertigt ist.
Nun greifen tragische Entscheidungen in Situationen ein, in denen nicht damit zu rechnen ist, dass die „Gewinne“ hinsichtlich des verfolgten öffentlichen Gutes die Verluste aufwiegen, die durch die Einschränkung des Rechts entstehen: das macht sie tragisch. Der Jurist Reinhard Merkel hat in verschiedenen Artikeln das Problem, um das es hier geht, an den Beispielen des Luftsicherheitsgesetzes, des Kriegs und der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen sehr genau analysiert. All diese Fälle haben gemein, dass es seitens des Rechts einer Rechtfertigung für die radikale Einschränkung von Grundrechten bedarf, die nicht gegeben werden kann, da die Einschränkung des Rechts den unkompensierten Tod der betroffenen Person bedeutet, denn der getöteten Person gegenüber kann kein Schadensersatz stattfinden. Und genau hier kommt das Verhältnismäßigkeitsprinzip an seine Grenzen: Vor den Betroffenen, denjenigen, denen ein höchstes Maß an Opfer abverlangt wird, kann das Prinzip nicht gerechtfertigt werden; denn was immer sich als Vorteil ergeben mag, ergibt sich nur zugunsten der Überlebenden.
Heißt das, dass sich keine moralisch begründbare Entscheidung treffen lässt? Ich erinnere daran: Wir sind davon ausgegangen, dass wir mit einer tragischen Entscheidung konfrontiert sind, mit einer Situation also, in der eine Abwägung zwischen allgemeiner Nützlichkeit und Rechten (‚Kosten‘) sich nicht praktizieren lässt, ohne dabei grundsätzliche Prinzipien der Moral zu relativieren. Für diejenigen, die bestreiten, dass es solche Prinzipien gibt oder dass sie untereinander in unauflösbaren Konflikten stünden, stellt sich das Problem nicht. Besteht man darauf, dass einige Prinzipien oder Grundrechte eine oberste Priorität haben und sich nicht durch die Logik der Ökonomie ins Wanken bringen lassen, wird man wohl von Abwägung sprechen und empfehlen, sie solle verhältnismäßig sein. Diese Lösung ist allerdings eine zweitbeste: Sie stellt tatsächlich einen Kompromiss zwischen zwei ethischen Grundsätzen dar, die an sich inkompatibel sind. Der Kompromiss verbindet auf der einen Seite die (pflichtethische) Perspektive, dass einige Rechte, wie das Recht auf Leben und Unversehrtheit, unantastbar sind, mit der (utilitaristischen) Perspektive, dass ihr Gewicht in manchen Fällen von den Konsequenzen der relevanten Handlung übertroffen wird.
Auf theoretischer Ebene darf das Recht auf Leben nicht berechtigterweise durch ökonomische oder durch Nützlichkeits-Erwägungen eingeschränkt werden. Da nun allerdings bei der derzeitigen Krise die erwünschten medizinischen Ziele einer schnellen Kontrolle der Pandemie mit verheerenden Kosten für die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt bezahlt werden müssen, könnten wir an einem Punkt gelangen, an dem eine Abwägung unvermeidlich ist. Um den Schaden dort zu begrenzen, wo er unvermeidbar ist, bietet die Suche nach einer Rechtfertigung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine zweitbeste, also eine Kompromiss-Lösung. Der den Opfern zugefügte Schaden darf nicht mit gutem Gewissen als „akzeptabel“ oder „angemessen“ verkauft werden. Muss der über achtzig Jahre alte Patient extubiert werden, um das Leben einer jüngeren Person zu retten, deren Heilungsaussichten besser sind, muss also eine „Triage“ zwischen Personen stattfinden, so kann dies bloß entschuldigt werden. Gut ist sie nicht. Ich nenne diese Lösung eine Kompromisslösung, weil sie nicht diejenige ist, die man für richtig hält. Man hält die Einschränkung der Rechte der betroffenen Person sogar für falsch, unter den gegebenen Umständen jedoch für unausweichlich und angemessen.
Kompromisse bedeuten immer einen Verzicht, und bei existentiellen Entscheidungen tun sie weh. Manche Kompromisse sind faul. Es sind diejenigen, die auf den Rücken der Schwächeren oder von Minderheiten geschlossen werden, die ein Unrechtsregime auf den Plan heben oder stärken. Eine systematische Diskriminierung von Personen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sozialen Meriten oder allein aufgrund des Alters liefe auf einen faulen Kompromiss hinaus. Im Einzelnen kommt es auf die nähere Ausgestaltung an, schreibt Gertrude Lübbe-Wolf (FAZ vom 27.3.20). Wenn allerdings ein superreicher Präsident dieser Welt öffentlich zu bedenken gibt, dass Beatmungsmasken zu teuer seien, opfert er Grundsätze der medizinischen Ethik auf dem Altar der Wirtschaft. Weniger Mittel in unerlässliches Medizingerät zu investieren, um die Wirtschaft schadlos zu halten, das ist in der dramatischen Situation, die wir durchleben, ein klarerweise fauler Kompromiss.
Véronique Zanetti, seit 2004 Professorin für Ethik und Politische Philosophie an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der internationalen Beziehungen, Theorie des gerechten Kriegs, globale Gerechtigkeit, Rechtsphilosophie und kantische Philosophie. Von 2004 bis 2015, Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH). 2015, Opus-magnum-Stipendium der VW-Stiftung für den Entwurf einer Monographie über moralische und politische Kompromisse mit dem Titel: Spielarten des Kompromisses. Das Buch soll 2020 erscheinen. Seit 2015 ist Véronique Zanetti Mitglied des Direktoriums des ZiF (Zentrums für Interdisziplinäre Studien) und seit 2017 dessen geschäftsführende Direktorin.
In Kooperation mit praefaktisch.