Die potente Frau

Essay
06.12.2018 - Svenja Flaßpöhler

Wie wollen wir zusammenleben? Angesichts der Debatten über Sexismus und Geschlechtergerechtigkeit muss diese Frage auch aus gender- und identitätspolitischer Perspektive betrachtet werden. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler  kommentiert die Gegenwart und entwickelt Visionen über die Zukunft der Geschlechterverhältnisse.

PROLOG

Rechtlich ist das Patriarchat passé. Die potente Frau hat es auch psychisch überwunden. Scham und Gefallsucht hat sie abgestreift wie ein altes Kleid. Ihr Zugang zur Lust: unmittelbar. Ihr Begehren: eigensinnig. Sie ist keine Leerstelle – weder existiert sie für den Mann noch durch ihn. Weit entfernt davon, ein Spiegelbild seiner Potenz zu sein, ist sie ein ihm gleichwertiges, aber nicht gleiches Gegenüber. Der Unterdrückung, historisch betrachtet, noch nicht lang entkommen, liegt der potenten Frau nichts daran, nun ihrerseits zu unterwerfen. Sie dreht den Spieß nicht einfach um, weil sie weiß, wohin das führt: zu einer tiefen Entfremdung der Geschlechter. Die Größe der potenten Frau speist sich vielmehr aus ihrem Vermögen, den Impuls der Herrschsucht zu unterlassen: Jede Form der Verdinglichung lehnt sie entschieden ab. Die potente Frau hat den Sprung aus einer überholten Gegenwart gewagt. Vorbei die Jahrzehnte des Übergangs, in der das sogenannte schwache Geschlecht beinahe krampfhaft festhielt an dem ihm zugeschriebenen Opferstatus, weil noch keine andere Erzählung möglich schien. Vorbei die Zeit, in der Frauen kaum etwas wussten von der eigenen Lust und Gesetze einforderten, die für sie ihr Intim- leben regeln. Die potente Frau ist weder Realität noch ein unerreichbares Ideal. Sie ist eine Möglichkeit. Warum ergreifen wir sie nicht?

EINLEITUNG

Seit Monaten bestimmt die #metoo- Debatte die Feuilletons und Talkshows. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine Schauspielerin, Künstlerin oder Sportlerin von sexualisierter Gewalt berichtet. Kaum ein Tag, an dem nicht von patriarchalen Strukturen die Rede ist, die Frauen unterdrücken, und zwar systematisch. Männliche Gewalt, behauptet der Hashtag-Feminismus, ist allgegenwärtig: im Büro, im Bett, im Leben einer jeden einzelnen Frau. Und ja, es stimmt: Handfeste, brutale Gewalt von Männern gegen Frauen (und auch gegen Männer) existiert. Männer sitzen immer noch in signifikant mehr Machtpositionen als Frauen. Einige von ihnen nutzen ihre Macht schamlos aus. Und natürlich ist es gut, wenn Männer wie Harvey Weinstein entmachtet werden. Auffällig ist aber, dass eine ganz bestimmte Perspektive in der gegenwärtigen Diskussion weitgehend ausgespart wird: die Frage nämlich, was Frauen zur Festigung der männlichen Macht, die immerhin keineswegs mehr rechtlich legitimiert ist, selbst beitragen. Tatsächlich sind es Initiativen wie #aufschrei, #neinheißtnein und #metoo, die, trotz allen emanzipatorischen Willens, patriarchale Denkmuster blindlings wiederholen und damit eben jene Wirklichkeit festschreiben, die sie beklagen: Gegen Belästigungen ist die Frau machtlos; sie kann sich nicht wehren; das männliche Begehren ist allmächtig, das weibliche nicht existent. Mit meinem Buch mache ich auf Dynamiken wie diese aufmerksam und plädiere für einen anderen, offensiven Begriff von Weiblichkeit und weiblicher Sexualität. Nur wenn die Frau in die Potenz findet, kann sie Autonomie nicht nur einfordern, sondern auch leben.

NOT ME

Die Möglichkeit steht für das Neue. Für das Offene und Unbekannte. Wer eine Möglichkeit ergreift, weiß noch nicht, ob sie auch in Zukunft trägt. Insofern ist es bezeichnend für Phasen des Übergangs, dass Menschen das Alte bevorzugen, selbst wenn es mit Unglück verbunden ist. Warum wir die Möglichkeit der Selbstermächtigung nicht ergreifen? #metoo-Befürworterinnen und -Befürworter geben auf diese Frage die folgende Antwort: Weil die Möglichkeit eben doch keine Möglichkeit ist. Weil leider immer noch, gesetzliche Gleichstellung hin und her, Männer diese Welt beherrschen. Frauen werden von Männern, die ihre Macht ausnutzen, vergewaltigt, genötigt, belästigt – das ist die Grundannahme. Bereits an diesem Punkt ist dringend Differenzierung gefragt. Nicht in jedem Chefsessel sitzt ein Harvey Weinstein. Nicht jedes Unternehmen ist ein Machtkartell im Dienste der sexuellen Vorlieben eines Vorgesetzten. Zudem lässt sich bezweifeln, dass sexuelle Übergriffigkeit wirklich, wie #metoo suggeriert, das zentrale Problem von Frauen in der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Läge es nicht näher, sich mit derselben Intensität zum Beispiel, sagen wir, dem Thema „ungleiche Löhne“ zu widmen? Dann immerhin hätte man wirklich ein strukturelles Problem am Haken. Das Problem ist nur: Ein Hashtag #fürgeschlechtergerechtegehälter hätte nicht dieselbe Resonanz und Reichweite wie #metoo, weil er keine vergleichbaren medialen Verstärker fände. Ungleiche Löhne sind für Boulevardblätter, Wochen- und Tageszeitungen nun einmal nicht so sexy wie Berichte von Frauen, die detailgenau schildern, wie sie von mächtigen Männern in Hotelzimmern belästigt oder genötigt wurden. […]

Ab Frühjahr 2019 wird Svenja Flaßpöhler in der Urania Berlin mit einem neuen Format zu erleben sein.

Dr. Svenja Flasspöhler, geboren 1975, ist Chefredakteurin des Philosophie Magazins. Die promovierte Philosophin war Literaturkritikerin in der Sendung „Buchzeit“ (3sat) und leitende Redakteurin beim Deutschlandfunk Kultur. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, zuletzt erschien von ihr das vielbesprochene Buch „Verzeihen“. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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