Entstopft die Diskursräume - Warum Streit und Konflikt die Demokratie nicht gefährden

Essay
25.10.2021 - Michel Friedman

Streiten und die freie Meinungsäußerung sind der Sauerstoff der Demokratie. Warum Demokratie Diskursräume eröffnet und öffentliche Räume schützt, in denen die unterschiedlichsten Argumente angstfrei ausgetauscht werden können, verrät uns der Publizist Michel Friedman.

Humanismus und Aufklärung leben vom Streit. Von dem Suchen nach Antworten, dem Fragen und Hinterfragen. Dem Zweifeln. Diesem wunderbaren, hinterhältigen, zerfleischenden, erkenntnisreichen, unverzichtbaren Antrieb, dass Wissen, Reflektieren und Verstehen Momentaufnahmen sind – nur ein kurzes Momentum der Sehnsucht des Menschen, sich der Wahrheit anzunähern. Mehr zu begreifen, mehr zu lernen.

Meine Eltern ließen erstaunlicherweise zu, dass ich stritt. Mit ihnen und immer mehr und öfter mit vielen anderen. Mein Durst, meine Sehnsucht nach Wissen und Verstehen wuchs mit jedem Streit. Der Austausch von Gedanken und Argumenten ist der Sauerstoff des Lebens. Sich selbst und den anderen im Zweifel zu erleben und angezweifelt zu sein, sind die Voraussetzungen des Lernens.

Meine Mutter hatte Angst. Um mich. Je mehr ich stritt, desto mehr Angst. Aber sie ließ es zu. Erstaunlicherweise. Als ich älter wurde, verstand ich warum. Der Judenhass, der ihre Familie zerstört hatte, der Hass und die Hetze auf Menschen, war nicht wirklich weniger geworden. Dem nicht sprachlos gegenüberzustehen, einen anderen Entwurf von Gesellschaft und Menschenwürde zu entwickeln, und sei es nur für die eigene kleine persönliche Welt, war ohne Streit nicht erreichbar. Lebens und Gesellschaftsentwürfe müssen miteinander und gegeneinander verhandelt werden. Immer und immer wieder. Der Streit ist das Instrument dazu.

Dass er in Deutschland bis in die Gegenwart negativ besetzt ist, ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass das Schweigegebot, das nach 1945 die Diskursräume in Deutschland verstopfen sollte, immer noch viel zu wirksam ist. Das mag einer der Gründe sein, warum sich keine wirkliche Kultur des Streitens entwickeln und etablieren konnte. Die größte Sehnsucht war und ist bis heute noch, einen Sprühnebel des Konsenses über die vielen Dissense und Konflikte zu verteilen. Streit ist nicht erwünscht. Der Streitende ein potenzieller Störer der Scheinharmonie.

Georg Simmel stellt schon 1908 in „Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ fest, dass die Opposition keineswegs ein negativer »sozialer Faktor [ist], weil sie vielfach das einzige Mittel ist, durch das uns ein Zusammen mit eigentlich unaushaltbaren Persönlichkeiten noch möglich wird.« (S. 189). Sie ist sogar die Voraussetzung für eine funktionierende, pluralistische, diverse Gesellschaft. Simmel hat recht, wenn er fortfährt: »Unsere Opposition gibt uns das Gefühl, in dem Verhältnis nicht völlig unterdrückt zu sein, sie lässt unsere Kraft sich bewusst bewähren und verleiht so erst eine Lebendigkeit und Wechselwirksamkeit an Verhältnisse, denen wir uns ohne dieses Korrektiv um jeden Preis entzogen hätten.“ (S. 190)

Das demokratische System setzt diese Idee innerhalb eines politischen Rahmens in eine politische Realität um. Opposition ist dabei eine unverzichtbare Säule, um emanzipative Prozesse, also die Sehnsucht nach Befreiung von Unterdrückung, zu erreichen. Eine Demokratie, in der die Opposition nicht als ein Wert an sich existiert, ist keine Demokratie. Das gilt auch im Intellektuellen. » Die Intellektuellen haben als die Hofnarren der modernen Gesellschaft geradezu die Pflicht, alles Unbezweifelte anzuzweifeln, über alles Selbstverständliche zu erstaunen, alle Autorität kritisch zu relativieren, alle jene Fragen zu stellen, die sonst niemand zu stellen wagt. “ (Ralf Dahrendorf, Der Intellektuelle und die Gesellschaft: Über die soziale Funktion des Narren im zwanzigsten Jahrhundert. Die Zeit vom 29. März 1963) Je weniger, je verschüchterter nicht nur die Intellektuellen, sondern wir alle dies tun, desto mutiger scheint es zu werden, sich doch als Oppositioneller auf den Weg zu machen.

Wirklich mutig sind die, die in einer Diktatur leben und das tun. Wir in Deutschland hingegen sollten nicht so tun, als ob wir heute mutig sein müssten, um zu streiten und zu hinterfragen. Bei aller Kritik an unserer Gesellschaft scheint es mir eher eine Ausrede zu sein, wenn Menschen ihre Freiheit nicht nutzen, um die herrschende Macht infrage zu stellen. Der Hinweis auf das Risiko und die Angst sind Pseudoargumente. Dabei bin ich mir bewusst, dass der Streit auch (harte) Konsequenzen für den Streitenden haben kann. In der Regel sind diese in einer Demokratie jedoch nicht existenziell. Der Streit ist konstitutiv für die Demokratie. Ohne Streit stirbt sie.

Die Demokratie braucht den Streit, die Auseinandersetzung, den Konflikt auf allen Ebenen. Individuell, kollektiv, institutionell und strukturell. Das heißt, dass der Streit Conditio sine qua non für alle an der Macht und an der Gesellschaft beteiligten Institutionen ist. Auch in der Gewaltenteilung des Grundgesetzes, und damit der Machtverteilung, kann man dies nachvollziehen. Aristoteles beschreibt den Menschen als ein »Zoon politikon«, also als politisches Wesen. Da er nicht allein leben kann, sich »vergesellschaftlichen muss«7, Gruppen bilden muss, bilden sich ununterbrochen »Wirs« und »Ihrs«. Im Wir gegen ein anderes Ihr zu streiten, ist leichter als im Ich zum Du, weil man sich besser verstecken kann, sich vermeintlich stärker fühlt. Die ökonomischen Kosten eines Streites verteilen sich in der Gruppe leichter. Die Frage »Lohnt sich der Streit?« wird anders berechnet.

Im 21. Jahrhundert, in dem Gruppenbildung seit Jahrzehnten, teilweise Jahr hunderten Bestand hat, erleben wir das Zerbröseln dieses alten, politisch kollektiven Wirs. Im demokratischen Westen besonders. Ob Religionsgemeinschaften oder Gewerkschaftsbewegungen oder Parteien – sie schaffen es nicht mehr, die Sehnsucht nach Gruppenbildung zu erfüllen. Dieses Phänomen trifft parallel auf eine Welt voller unübersehbarer Konflikte, Kriege, Naturkatastrophen und jetzt auf die aktuelle Corona-Pandemie.

Auch die Verschiebung der globalen Machtverhältnisse empfinden viele Menschen als große Bedrohung. Die Schwäche der westlichen Welt, vor allem Europas und der USA, und die Stärke des asiatischen Raums, allen voran Chinas, ist eine neue Erfahrung für jene Kollektive, die Teile der Welt kolonialisiert und beherrscht haben. »Der weiße Mann« merkt schmerzhaft, dass er Minderheit in der Welt ist. Das Zoon politikon irrt mehr denn je umher. Sucht nach Sicherheit, neuen Gruppen, aus denen heraus sein Streit lebbar wird. Dies werden NGOs oder Bewegungen wie Fridays for Future, so sehr sie notwendig und zu begrüßen sind, nicht leisten können. Auch »Volksparteien« erleben diesen Wandel, indem sie sich größtenteils pulverisieren. Deswegen müssen mehr mittlere und kleinere Parteien koalieren, was ihre Profile noch mehr verwischt – teilweise bis zur Unkenntlichkeit. Oft bleibt eine Hülle mit zu wenig Inhalt.

Die Gedankenwelt extremistischer Parteibewegungen, populistischer Gruppierungen erlebt in unserer Zeit Hochkonjunktur bis in Regierungsspitzen hinein. Die wirkliche Krise der Demokratie unserer Gegenwart ist, dass diese Bewegungen nicht Streit repräsentieren, sondern das monologische Propagandasystem darstellen. Vor allem aber, dass sie im öffentlichen Diskursraum so wirken, als ob sie bereit seien, dialogisch mitzuwirken, und – und das ist das entscheidende Problem – von den Demokraten nicht ausreichend demaskiert werden. Die Demokratie unserer Gegenwart könnte dadurch geschwächt, wenn nicht sogar zerstört werden. Was wir erreichen müssen, ist, dass der Streit als Kooperationsgedanke wieder deutlicher wird. »Der Streit schafft erstens soziale Beziehungen dort, wo vorher keine waren, ist selbst eine spezifische Art sozialer Beziehung; wo zwei Parteien in einen Streit eintreten, entstehen soziale Relationen, die auf dem Streit selbst beruhen«, sagen Uwe Baumann et al.

Beschäftigt man sich mit Streit und Konflikt, ist die Ambivalenz mit Händen greifbar. Einerseits ist das Entstehen dieser sozialen »Beziehungen« der Beginn eines Dialogs, einer Kooperation, einer Auseinandersetzung mit einem möglichen gemeinsamen Kompromiss. Andererseits kann diese »Berührung« zu einer aggressiven, gewalttätigen, vernichtenden Situation führen.

Betrachtet man die Menschheitsgeschichte, sieht man diese Ambivalenz überall und zu jeder Zeit. Dies darf aber nicht zu dem Ergebnis führen, auf den Streit zu verzichten. Im Gegenteil. Marie von Ebner-Eschenbach sagt: »Nicht jene, die streiten, sind zu fürchten, sondern jene, die ausweichen.« Konflikte lösen sich nicht in Luft auf. Sie müssen verhandelt werden. Sonst entsteht ein Streit-Stau. Je länger der Stau ist, desto schwieriger wird es, ihn aufzulösen. Neue Teilnehmer, die sich dem Stau nähern, werden wiederum aufgehalten.

Jeder, der selbst mal in einem Stau stand, weiß, wie gefährlich das Stauende ist, weil Aufprallgefahr besteht, und wie lange es dauert, einen Stau aufzulösen. Der Streit setzt dynamische Prozesse in Gang. Der Stillstand, der nur den Mächtigen nutzt, wird erschüttert. Inwieweit diese Erschütterung, und vor allen Dingen zu welchem Zeitpunkt, produktive und konstruktive oder destruktive Lösungen hervorbringt, ist bei Beginn des Streits nicht vorhersehbar. Je mehr Menschen von dem Streit betroffen sind, desto unvorhersehbarer. Genau dann sollte er aber im Sinne von Jean Jacques Rousseau geführt werden: »Beim Streit gibt es keine Schonung: Wer sich vom Gegner mit ganzer Kraft angegriffen fühlt, muß [sic] sich mit all seiner Kraft verteidigen und so gewinnt der Geist an Genauigkeit und Schärfe.«

Und genau darum geht es: um Genauigkeit und Schärfe des Geistes. Um Erkenntnis. Um Fortschritt. Ob in der Psychoanalyse (Verdrängung) oder im politischen Raum (Unterdrückung, Diktatur) oder auf der soziologischen Ebene (undurchlässige Klassensysteme) – nur die Aufklärung, der Streit, das Gespräch, der Konflikt, der sichtbar wird, führen zu einer Verbesserung der Verhältnisse.

Michel Friedman ist Jurist und Publizist. Seit 1993 ist der in Paris als Sohn von Holocaust-Überlebenden geborene Medienrechtler auch als Fernsehmoderator tätig, u.a. als Gastgeber der Sendung „Studio Friedman“. Der promovierte Philosoph ist einer von vier Direktoren des neuen „Centers for Applied European Studies“ an der Fachhochschule Frankfurt.

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