Hauptsache gesund? - Ein Trialog zum Gesundheitswesen

Interview
25.10.2021 - Nicolas Flessa im Gespräch mit Juan Pablo Agusil Antonoff, Kathrin Hüster und Heyo Kroemer

Die Herausforderungen, die eine global wirksame Pandemie für unseren eigenen Gesundheitssektor mit sich gebracht hat, sind enorm. Doch viele Defizite sind hausgemachte Ergebnis politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Drei Expert:innen aus den Bereichen Gesundheitsmanagement, Pflege und Forschung werfen einen Blick auf den Status quo – und darauf, wie wir aus dieser Krise gesund herauskommen können.

Die Pandemie hat das Thema˛ „Gesundheit“ in die Hauptsendezeit katapultiert. Was kam Ihrer Meinung nach trotz der umfassenden Corona˛-Berichterstattung in den vergangenen Monaten medial zu kurz?

KATHRIN HÜSTER: Generelle objektive Aufklärung. Sei es „Wie setze ich einen Mundschutz richtig auf?“ oder warum bestimmte Maßnahmen zu bestimmten Zeitpunkten getroffen wurden und dann vielleicht wieder revidiert worden sind.

Die allgemeine Aufklärung, dass Wissenschaft nichts Unumstößliches ist und je-den Tag in ihren Annahmen und Theorien widerlegt werden kann. Plötzlich standen Begriffe wie „Preprints“ in den Medien, aber Aufklärung gab es wenig. So etwas wie den 7. Sinn zur Primetime hätte ich mir gewünscht, wo auch der normale Bürger schnell und einfach verstanden hätte, was gerade passiert.

HEYO KROEMER: Es ist gut, dass das Bewusstsein für Gesundheit und Medizin durch die Pandemie und die Berichterstattung verstärkt wurde. Die Medienpräsenz und auch die „Lockdowns“ selbst ‘führten bei vielen gewissermaßen zu einer Besinnung auf einen gesünderen Lebensstil. Andererseits hat die intensive und langwierige mediale Auseinandersetzung mit dem Corona-Virus, Symptomen, Impfungen und Nebenwirkungen aber inzwischen auch einen gewissen Verdruss und Frustration hervorgerufen.

JUAN PABLO AGUSIL ANTONOFF: Was wir gebraucht hätten, wären bessere Kommunikatoren, um folgende Botschaften zu übermitteln: „Wir wissen immer noch nicht, wie diese Krankheit funktioniert. Bitte seien Sie vorsichtig und geduldig“. Und: „Forschung braucht Zeit – aber wir sind dabei.“

Sie alle drei widmen sich mit Ihrer Arbeit im weitesten Sinne der „Gesundung des erkrankten Menschen“. Was behindert Ihre Arbeit konkret im Alltag –und welche Veränderungen wünschen Sie sich von Ihren Geldgebern, Ihren Kollegen, der Politik?

KROEMER: Die Versorgung von Patienten an der Charité ist vielen äußeren Vorgaben unterworfen, die es manchmal nicht einfach machen, die durch die Zahl und die Komplexität der Erkrankten hervorgerufene Sonderrolle auszufüllen. Wenn wir in Zukunft besser vorbereitet sein wollen, können wir in „normalen Zeiten“ nicht mehr alle Ressourcen bis zum Anschlag auslasten, da brauchen wir Lösungen, wie wir uns eine gewisse Reserve leisten können.

AGUSIL ANTONOFF: Forschung ist teuer und ihre Früchte sind nicht sofort sichtbar, was der aktuellen auf „unmittelbare Befriedigung“ gerichteten Mentalität sowohl der Gesellschaft als auch ihrer Anführer widerspricht. Doch die Wissenschaft ist das Rückgrat technologischer (und in hohem Maße philosophischer) Fortschritte, die die Menschheit in die Zukunft treiben und dazu beitragen, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen zu bewältigen. Folglich muss ein Paradigmenwechsel in der Bildung einsetzen, der dazu führt, Kreativität, kritisches Denken und Neugierde von der frühesten Kindheit an zu fördern.

HÜSTER: Restriktive und finanzgetriggerte Ansichten der Führungsebene. Wenn ich nicht mehr entscheiden kann, was das beste Mittel der Wahl ist, sondern welche Alternative am wenigsten kostet. Zudem kommen ewig gestrige Kollegen, die dann sagen „Ist halt so“ oder andere mit „Das haben wir schon immer so gemacht“ abspeisen wollen.

Wenn wir in der medizinischen Evolution so gehandelt hätten, wäre Eiter heute noch ein gutes Wundheilungszeichen.

Sie sprechen es an: Wirtschaftliche Effizienz spielt seit vielen Jahren eine entscheidende Rolle beim Umbau des staatlichen Gesundheitssystems. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung – und welche Alternativen schweben Ihnen vor, wenn Sie es anders machen würden?

AGUSIL ANTONOFF: Ein sehr schwieriger und sehr unpopulärer Ansatz könnte darin bestehen, private Gesundheitsdienstleister zu eliminieren. Eine strenge Regulierung für private, gewinnorientierte Unternehmen könnte dazu beitragen, teure Arztrechnungen für den Einzelnen zu vermeiden. Meiner Meinung nach ist die Prävention der effizienteste Weg, die Kosten der öffentlichen Gesundheit zu senken. Die Schaffung eines präventiven statt eines behandlungsbasierten Systems wäre zu Beginn teuer, würde aber die Kosten der Gesundheitsversorgung auf individueller Ebene und für den teuersten Teil der Bevölkerung, die Senioren, drastisch senken. Jede frühzeitige Behandlung einer Erkrankung ist wesentlich kostengünstiger als die einer fortgeschrittenen Erkrankung.

HÜSTER: Das ganze Gesundheitssystem muss komplett revolutioniert werden. Das ist aber nichts, was man in zwei Sätzen erklären kann, und es gibt nicht die eine Stellschraube, die gedreht werden müsste. Die Finanzierung muss überdacht werden, z. B. dass jede Pflegeleistung eben auch abrechnungsrelevant ist und selbst abgerechnet werden kann und nicht nur in einer Pauschale. Dann müssen wir über höhere Gehälter reden. Qualität kostet. Von meiner Expertise und der meiner Kollegen hängt der Genesungsprozess der Patienten ab. Dahingehend muss auch die Generalistik überdacht werden. Wir haben nichts für professionelle Pflege getan, sondern viel dagegen.

KROEMER: Unser Gesundheitssystem setzt z. T. falsche Anreize. Deutschland setzt auf eine flächendeckende Maximalversorgung, was beispielsweise dazu führen kann, dass schwierige Operationen auch an kleineren Krankenhäusern durchgeführt werden können, die darauf nicht spezialisiert sind. Andererseits werden spezialisierte Einrichtungen, die Infrastruktur für komplexe Fälle vorhalten, mit den gleichen Fallpauschalen vergütet, obwohl sie dadurch viel höhere Kosten haben. Insgesamt sollten die Behandlungen mehr an der Qualität und den Ergebnissen für den Patienten gemessen werden.

Ob neue Impfungen, Medikamente oder Operationstechniken – in kaum einem Bereich der Gesellschaft spielt Forschung eine so essenzielle Rolle wie in der Medizin. Zugleich wächst (nicht erst seit Covid-19) die Skepsis gegenüber der sogenannten Schulmedizin– wie erklären Sie sich das?

HÜSTER: Auch das ist ein Resultat einer Verknappung der Ressource Zeit durch Arztmangel. Die sprechende Medizin wird nicht vergütet. So frühstückt der Arzt in seiner Praxis die Patienten in knappen Zeitfenstern ab, um rentabel zu bleiben. Die Patienten fühlen sich abgelehnt und suchen dann häufiger Zuwendung bei ihren Schamanen oder Sonstigem. Der Mensch möchte sich und seine Ängste ernst genommen wissen. Um diesen katastrophalen Trend in Richtung Geschwurbel zu unterbinden, muss die sprechende Medizin auch refinanziert werden.

KROEMER: Medizin ist eine „angewandte“ Wissenschaft. Ärzte müssen tagtäglich Entscheidungen treffen, die sie nicht einfach verweigern können, weil es noch keine Studiendaten dazu gibt. Somit sind sie auch die größten Kritiker ihrer eigenen Kunst, wenn sie die Methoden der Kolleg:innen immer wieder systematisch hinterfragen. Andererseits sind es auch die Digitalisierung und das Internet, die eine Verbreitung von falschen, schlecht oder gar nicht recherchierten Informationen beschleunigt haben. Dabei verbreiten sich „Schreckensszenarien“ viel besser als vorsichtig abwägende Daten und Informationen. Besonders schwer fassbar und verständlich sind Wahrscheinlichkeiten und Risiko-bewertungen für den Einzelnen. Das sehen wir auch bei der Skepsis gegenüber Impfungen.

AGUSIL ANTONOFF: Wenn ein durchschnittlicher Bürger auf eine Technologie, z. B. mRNA-Impfstoffe, stößt, deren Verständnis enorme Vorkenntnisse erfordert, wird sie in ein unerreichbares Reich erhoben (vergleichen wir es mit einem mystischen Reich), was Spekulationen und Misstrauen den Weg ebnet.  Dem kann mit fundierter Forschung aus vertrauenswürdigen und überprüften Quellen entgegengetreten werden, doch leider wird nur ein winziger Teil der Bevölkerung diesen Weg einschlagen; der Rest wird sich auf die Medien oder Hörensagen verlassen. Wir brauchen daher dringend bessere politische, wissenschaftliche und medizinische Kommunikatoren, um diese neuen Technologien aus dem „mystischen Reich“ zurück auf die Erde zu bringen.

Viele Ärzt:innen und Pfle-ger:innen beklagen den hohen Verwaltungsaufwand, der sie von ihrer eigentlichen Arbeit, dem Heilen, abhält. Eine berechtigte Kritik? Und wenn ja: Was könnte man gegen diese Entwicklung unternehmen?

KROEMER: Leider ist „Digitalisierung“ im Krankenhaus viel leichter gesagt als getan, aber wir sind da mit Hochdruck dran. Auch die Dokumentationspflicht könnte in Teilen von digitalisiertem Monitoring und Datenerfassung ersetzt werden, aber hier machen es die Datenschutzvorgaben z. T. schwer, gute und vor allem umfassende Lösungen zu finden. Die Dokumentation unserer Arbeit sollte helfen, die Qualität unserer Versorgung zu belegen und zu verbessern. Dafür sollte die Datenerfassung besser automatisiert werden und Lösungen gefunden werden, um die Auswertungen dann auch datenschutzkonform verwenden zu dürfen. Wenn wir hier nicht bald zu besseren Lösungen kommen, werden wir im internationalen Vergleich zurückfallen.

HÜSTER: Eine mehr als berechtigte Kritik. Alles muss dokumentiert werden, und ich meine wirklich alles, teilweise noch per Hand und dann doppelt. Dann gibt es Statistiken, die zur eigentlichen Dokumentation noch dazukommen. Die hiesigen Systeme sind völlig veraltet und die IT-Infrastruktur in deutschen Kliniken steckt in den Kinderschuhen. Wenn die Ressource Personal knapp ist, und das ist sie, ärztlich wie pflegerisch, muss ich gucken, wie ich das knappe Personal entlaste. Und das geht u. a. mit digitaler Dokumentation. Ich habe bisher erst eine Klinik erlebt, die diese Möglichkeit angeboten hat. Sonst hieß es immer „pen and paper“ und das Ergebnis dann an drei Stellen dokumentieren. Das ist absurd!

Welchen Stellenwert sollte das Thema˛ Gesundheit ˛auch nach dem Ende der Pandemie in unserer Gesellschaft haben?

AGUSIL ANTONOFF: Die gegenwärtige Krise hat gezeigt, dass Gesundheit ein wesentliches Fundament der globalen Bevölkerung darstellt, und ich hoffe, dass sie nicht so schnell wieder als politisches oder soziales Instrument für individuellen (oder wirtschaftlichen) Vorteil missbraucht werden kann. Die Pandemie und ihre Bekämpfung haben Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammengebracht, die gemeinsam eine der größten Herausforderungen der Menschheit angehen. Ich hoffe, dass diese Kameradschaft auch in Zukunft bestehen bleibt.

HÜSTER: Gesundheit geht uns alle an. Jeder wird in seinem Leben über kurz oder lang auf Pflege und Medizin angewiesen sein und jeder möchte dann bestmöglich versorgt werden. Das geht aber nur, wenn wir als Gesellschaft begreifen, dass es eine Aufgabe jedes Einzelnen ist, sich für ein besseres System einzusetzen. Dass es uns allen etwas abverlangt, sei es durch Erhöhung der Beiträge oder Steuererhöhung, und dass es jeden interessieren muss, was mit ihm passieren kann, wenn das System vollständig kollabiert. Machen wir so weiter wie bisher, können sich nur wenige Menschen eine adäquate Versorgung im Alter leisten. Pflegekräfte sind in Zukunft ein knappes Gut.

KROEMER: Wie heißt es doch immer: „Hauptsache gesund“. Ich wünsche mir, dass wir dem Thema gesellschaftlich auch weiterhin einen großen Stellenwert geben, aber hoffentlich bald nicht mehr nur in Zusammenhang mit „Virus“ und „Inzidenzzahlen“, sondern etwas weiter gefasst und zukunftsorientierter.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Juan Pablo Agusil Antonoff arbeitet in der Micro- and Nanotools Group am Institute of Microelectronics of Barcelona und ist Mitbegründer des Biotechunternehmens Arrays for Cell Nanodevices.

Kathrin Hüster war 20 Jahre lang Pflegefachkraft, zuletzt auf verschiedenen Intensivstationen. Ende 2020 hat sie ihren Beruf aufgegeben. Heute arbeitet sie in einem medizinnahen Umfeld im Büro.

Prof. Dr. Heyo Kroemer ist Pharmazeut, Pharmakologe und Hochschullehrer. Von 2000 bis 2012 war er Dekan der Medizinischen Fakultat der Universitat Greifswald, seit 2019 ist er Vorstandsvorsitzender der Berliner Charité.

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