Ist unsere Demokratie noch zu retten?

Interview
06.12.2018 - Jürgen Wiebicke im Gespräch mit Erik Günther
© Bettina Fürst-Fastre
© Bettina Fürst-Fastre

Die Demokratie ist in Gefahr. Die aktuellen politischen Entwicklungen zeigen, wie wenig selbstverständlich die Werte sind, auf denen unser gesellschaftliches Zusammenleben beruht. Ist unsere Demokratie noch zu retten?

Herr Wiebicke, 2017 erschien Ihr Buch „Zehn Regeln für Demokratie- Retter“. Wie sind Sie auf das Thema Demokratie gestoßen?

In diesem Buch habe ich versucht, mit einfachen Merksätzen zu formulieren, dass wir einen neuen Anfang machen müssen, um für demokratische Werte einzustehen. Seit einiger Zeit stehen wir vor scheinbar unlösbaren Problemen. Wir haben einen Klimawandel, der aus dem Ruder läuft, wir haben Flüchtlingsbewegungen von Millionen von Menschen, wir haben keine Antwort auf die extrem ungleiche Verteilung von Reichtum. Das sind so komplexe Probleme, dass man eigentlich sofort als Lügner dasteht, wenn man darauf mit einfachen Antworten reagiert. Die Demokratie, wie ich sie verstehe, erkennt diese Komplexität an. Bei vielen, die sich die Dimensionen dieser Probleme klar machen, entsteht jedoch ein Hang zu Fatalismus und Tatenlosigkeit. In einer solchen Situation geht es für mich darum zu klären, was die Rolle des Einzelnen in der Demokratie sein kann.

Eine Ihrer ersten Feststellungen im Buch ist, dass Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern auch eine Lebensform sei. Was meinen Sie damit?

Wenn ich beispielsweise mit Jugendlichen über das Thema spreche, dann mache ich das an einem krassen Beispiel klar: Wenn wir ab nächste Woche keine Demokratie mehr haben, dann dürfen euch eure Eltern wieder schlagen. Die sind zwar erst einmal verdutzt, aber nach und nach verstehen sie, worauf ich hinaus will: Demokratie heißt nämlich nicht nur, dass wir Frau Merkel oder jemand anderen haben, die da oben im Berliner Reichstag Politik machen; Demokratie betrifft unser ganzes Leben. Wenn wir keine Demokratie mehr haben, ändern sich auch unsere Verhältnisse am Arbeitsplatz und in den Familien. All das, was wir zivilisatorisch erreicht haben, zum Beispiel dass man konstruktiv streiten kann oder Konflikte eben nicht willkürlich, sondern regelhaft löst, all das geht weit über den politischen Bereich hinaus. Da gerät also noch sehr viel mehr mit ins Rutschen als nur die Regierungsform. Und genau das ist vielen Menschen nicht klar, wenn man momentan beobachtet, wie viele Gesellschaften den autoritären Versuchungen nachgeben.

Wenn ich das erkannt habe, stellt sich die Frage, wie ich persönlich anfangen kann, mich zu engagieren. Sie selbst beginnen das Buch mit der Regel „Liebe deine Stadt“. Was hat meine Stadt mit Demokratie zu tun?

Stadt ist auch ein Teil der Identität und ich glaube, dass wir heute eine gute Antwort auf die Frage nach Identität brauchen. Gerade im Gespräch mit jüngeren Menschen erlebe ich immer wieder, dass die Fragen „Wer bin ich?“, „Was verbindet mich mit anderen?“, „Was trennt mich von anderen?“ im Moment unglaublich scharf gestellt sind. Und es gibt Versuchungen, diese Fragen nach Identität möglichst einfach zu beantworten. Diese Antworten sind entweder nationalistisch oder reli-giös geprägt. Oder sie beziehen sich auf den privaten Lebensstil: Wie verhalte ich mich zum Beispiel als Veganer gegenüber Fleischessern?

Was hat das zur Folge?

Ich sehe, dass es da eine große Versuchung gibt, unsere Gesellschaft in lauter Gemeinschaften von Gleichgesinnten zu zerlegen. So entstehen Meinungsblasen. Und das hat zur Folge, dass wir immer weniger verstehen, wie andere Menschen auf die Welt schauen. Die unangenehmen Folgen von Identitätspolitik kann man im Moment überall besichtigen. Weil das Nationale wieder hochkocht. Da stellt sich die Frage, wie wir anders auf die Identitätsfrage antworten können. Wichtig ist: Menschen wollen identifiziert sein. Wir sind nicht nur als Einzelne unter lauter Einzelnen unterwegs. Um sich als Teil eines Ganzen zu begreifen, ist meiner Meinung nach die beste Grundlage, dass man sich mit dem Sozialraum, in dem man lebt, identifiziert. Identifizieren heißt auch, dort für gute und gerechte Verhältnisse sorgen zu wollen. Und das gelingt am besten, wenn ich in meiner Stadt beziehungsweise vor der eigenen Haustür anfange.

Kann das denn ausreichen?

Es gibt visionsreichere Zeiten als unsere, die strotzen vor Utopien und politischen Bewegungen, welche am liebsten sofort die Weltrevolution ausrufen wollen. Ich glaube, dass wir so eine Zeit gerade nicht haben und dass wir uns das dringend eingestehen müssen. Ich schlage stattdessen vor, dass wir kleine Anfänge machen und erst einmal in der eigenen Umgebung schauen, was wir für Beiträge leisten können, die wir auch unmittelbar wahrnehmen. Es geht dabei um die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die unbedingt gestärkt werden muss.

Sie unterstreichen, dass analoge Orte wie die Urania für demokratische Debatten heute mehr denn je wichtig sind. Worin genau liegt für Sie das Potenzial dieser realen Treffpunkte?

Ich bin seit einigen Jahren auf der Suche nach guten Orten, nach sogenannten Demokratielaboren. Damit meine ich gut funktionierende Netzwerke, in denen man besichtigen kann, wie jeder der Beteiligten etwas bewirken kann; wie Menschen die Erfahrung machen, dass es auf sie ankommt. So erst kann es möglich werden, dass die Menschen gesellschaftliches Engagement als etwas Selbstverständliches ansehen. Natürlich brauchen gut funktionierende Netzwerke digitale Kommunikation, ganz pragmatisch als Medium der Verständigung und des Austauschs. Aber der entscheidende Spirit, also das, was Menschen zusammenbringt und Engagement auch auf Dauer stärkt und nicht nur reflexhaft für eine Onlinepetition genutzt wird, das läuft nach analoger Logik.

Was meinen Sie damit?

Dass wir uns in die Augen gucken wollen; wir wollen einen Dissens austragen. Vor allem aber wollen wir die Erfahrung machen, dass andere das sehen und anerkennen, dass wir uns bemühen – und das geht nur im Analogen.

Und wenn ich jetzt loslegen möchte, die Demokratie zu retten, wie fange ich da am besten an?

Zuerst kann man sich in der eigenen Nachbarschaft erkundigen; wo sind dort eigentlich Menschen unterwegs, die schon Anfänge gesetzt haben. Dann muss ich bestrebt sein, mich mit denen – digital formuliert – zu verlinken. Das ist der Anfang. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, dass man sich vernetzt, ohne sofort an ein konkretes Projekt zu denken. Erst in einem weiteren Schritt sollte man überlegen, was wir überhaupt verändern wollen. Dann ist auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass das Netzwerk stabil bleibt und Krisen übersteht.

Es ist also besser, nicht sofort in blinden Aktionismus zu verfallen, sondern gelassen zu bleiben und nur so viel zu leisten, wie es für jeden Einzelnen möglich ist?

Ganz genau. Und Netzwerke sind besonders dann aussichtsreich, wenn sie dem Einzelnen die Möglichkeit geben, das zu tun, was den eigenen Talenten entspricht. Dann ist gewährleistet, dass Menschen gesehen werden und Anerkennung erhalten. Denn Engagement ist nicht per se selbstlos. Wir bringen uns nicht ein, weil wir wie Mutter Theresa sind und uns selbst dabei aufgeben, im Gegenteil: Wir wollen gesehen werden und Respekt für das eigene Tun spüren. Menschen sind auf Anerkennung angewiesen, und auch das ist bei demokratischem Engagement extrem wichtig.

 

Seit Anfang 2019 befasst sich Jürgen Wiebicke im Rahmen einer Gesprächsreihe in der Urania Berlin mit dem Thema Demokratie.

 

Jürgen Wiebicke, geboren 1962, lebt als freier Journalist in Köln. Jeden Freitag moderiert er „Das Philosophische Radio“ im WDR5. Mit Svenja Flaßpöhler, Wolfram Eilenberger und Gert Scobel ist er Teil der Programmleitung des Philosophie-Festivals „phil.cologne“. Sein Buch „Zehn Regeln für Demokratieretter“ erschien 2017 im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

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