Kann man als Arzt unpolitisch sein? - Vom lustigen Doktor zum Klimaaktivisten

Spätestens mit seinen Bestsellern „Die Leber wächst mit ihren Aufgaben“ und „Glück kommt selten allein“ wurde Dr. Eckart von Hirschhausen einem Millionenpublikum bekannt. Warum sich der promovierte Humanmediziner heute für die Gesundheit der Welt einsetzt, verrät er uns in diesem Blogbeitrag.
Hitzefrei! Das gab es zu meiner Schulzeit, wenn es um 10 Uhr morgens 25 Grad hatte. Es blieb aber immer eine Entscheidung der Schulleitung vor Ort. An meiner Berliner Grundschule hing am Eingang ein großes Thermometer in einem Gitterkäfig, der verhindern sollte, dass es geklaut würde. Die Schutzvorrichtung verhinderte aber nicht, dass wir an den entscheidenden Tagen mit einem Feuerzeug versuchten, kurz vor dem Ablesen die Werte zu manipulieren, um in den Genuss eines freien Vormittags zu kommen, denn Hitzefrei war eine absolute Seltenheit.
Aber Erinnerungen trügen, und deshalb fragte ich über meinen Freund Sven Plöger beim Deutschen Wetterdienst nach, wie viele Tage es in Berlin während meiner Schulzeit gab, an denen es um 10 Uhr über 25 Grad heiß war. Der Pressesprecher schickte mir die Auswertung. In den fünfzehn Jahren von 1980 bis 1995 gab es nur vier Tage mit diesen Temperaturen. Im ersten Hitze-Rekordjahr 2003 gab es allein dreizehn solcher Hitzetage. Und in den letzten fünfzehn Jahren, von 2005 bis 2020, waren es in der Summe bereits einhundertfünfundvierzig Tage, an denen es nach „meiner“ alten Definition Hitzefrei hätte geben müssen, 2018 allein schon vierundzwanzigmal.
An den freitäglichen Schulstreiks von „Fridays for Future“ entzündeten sich 2019 die Gemüter. Der FDP-Politiker Christian Lindner meinte, die Schüler sollten doch nach Schulschluss streiken. What? Piloten oder Lokführer streiken doch auch nicht nach Feierabend! Da wurde der jungen Generation jahrelang vorgeworfen, unpolitisch und desinteressiert zu sein, und plötzlich verhalten sie sich politischer und erwachsener als viele Erwachsene. Die nächste Generation denkt globaler und internationaler als meine, fordert Gerechtigkeit, fühlt sich zu Recht betrogen um ihre Zukunft auf diesem Planeten. Dann kam Corona, und viel mehr Unterricht fiel aus als durch die Demonstrationen.
Der Deutsche Wetterdienst sagt voraus, dass die Anzahl der heißen Tage noch zunehmen wird. Selbst wenn man die Hitzefrei-Definition auf 30 Grad anhebe, werde es aller Voraussicht nach in siebzig Jahren mehr Hitzefrei-Tage geben, als es überhaupt Freitage gibt, also über fünfzig pro Jahr. Sollte man also die Freitage heute nicht dafür nutzen, diesen verrückten Zustand nach allen Kräften zu verhindern? Als es hieß, die Jugend solle solch komplexe Dinge doch bitte den Profis überlassen, ließen diese nicht lange auf sich warten. In Windeseile gründete sich die Gruppierung „Scientists for Future“, um die Jugendlichen zu unterstützen. Einen solchen Schulterschluss von Forscherinnen und Forschern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hatte es zuvor noch nie gegeben.
Viele Wissenschaftler schüttelten seit Jahren den Kopf darüber, wie die deutsche Politik in Sachen Klima agierte. „Das Pariser Klimaabkommen wird ratifiziert, und dann tun die Politiker nichts dafür, die beschlossenen Ziele auch umzusetzen“, kritisierte Volker Quaschning von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Er war neben Gregor Hagedorn einer der Treiber der wissenschaftlichen Community. Ich bekam von mehreren Seiten die Einladung, eine Petition zu unterschreiben, die dazu aufrief, die Anliegen der Jugendlichen zu unterstützen. Ich teilte sie in meinem Netzwerk, weil ich das Zeichen wichtig fand. Auch die anderen suchten Mitstreiter, und so waren sehr schnell über 26 000 Unterschriften zusammen, darunter auch die von zwei Nobelpreisträgern.
Auf diese Weise gelang es innerhalb von wenigen Tagen, im ehrwürdigen Rahmen der Bundespressekonferenz mit Vertreter:innen von „Scientists for Future“ und „Fridays for Future“ gemeinsam zu sagen: Die Proteste und Positionen der Jugendlichen sind aus wissenschaftlicher Sicht gerechtfertigt. Weder die deutschen Pläne zum Kohleausstieg noch die Ausbaupläne für erneuerbare Energien oder die Reduktionsbemühungen im Verkehrs- oder Wärmebereich sind auch nur ansatzweise ausreichend, um das 1,5- Grad-Ziel bei der Begrenzung der Erderwärmung zu erreichen. Durch die Decke ging die Wahrnehmung dann, als der Youtuber Rezo in seinem Video vor der Europawahl 2019, mit dem er etwa 20 Millionen Menschen erreichte, aus der Pressekonferenz zitierte.
Auch das Video „Rezo wissenschaftlich geprüft“, in dem ich zu der Verbindung von Klimawandel und Gesundheit Stellung nahm, wurde von Millionen Menschen aufgerufen. Neue Kanäle, neue Aufgaben, eine neue Rolle? Die Zeiten ändern sich Mir wurde klar: Jetzt bin ich nicht mehr nur der lustige Doktor, Wissenschaftsjournalist oder Vermittler. Die Zeiten ändern sich, und ich ändere mich mit. Ein paar Wochen vorher hätte ich mir nicht träumen lassen, überhaupt einmal im Leben vor der blauen Wand zu sitzen, die man sonst nur aus der „Tagesschau“ kennt. Und ich weiß auch noch, dass ich an dem Tag frühmorgens von meiner Bühnentour kam, nach Berlin reiste und von dort direkt nach Hannover fuhr, um zugunsten von „Humor hilft Heilen“ eine CD mit Kinderwitzen aufzunehmen. Mir schwirrte der Kopf von dem Sprung zwischen so völlig unterschiedlichen Welten innerhalb weniger Stunden.
Dieser Spagat ist anstrengend, auch für mein ganzes Umfeld, das Schritt halten soll und mit meiner neuen Rolle – ebenso wie ich – manchmal fremdelt. Was ist eigentlich das Gegenteil eines Aktivisten? Ein Passivist? Waren wir das nicht alle schon lange genug? Die Streiks der „Fridays“ haben mich daran erinnert, wie ich in diesem Alter drauf war. Ich glaube, dass jede Generation ihr Aha-Erlebnis hat. Für mich war das 1986 Tschernobyl. An dem Tag des Reaktorunglücks war ich achtzehn und unterwegs nach München. Ich stand an der Autobahn, trampte und dachte: Du weißt überhaupt nicht, wo du hinfahren sollst. Überall schwebt diese radioaktive Wolke über uns.
An diese Hilflosigkeit fühlte ich mich erinnert, als es im Sommer 2018 in Deutschland über 40 Grad heiß war und ich merkte, dass ich der Hitze nirgends entkommen kann. Als Jugendlicher demonstrierte ich im Wendland und in Wackersdorf, und zack – nur ein Atomunglück und 25 Jahre später – folgte der Ausstieg aus der Kernenergie. Aus der Meinung von ein paar „Spinnern“ wurde ein mehrheitsfähiger politischer Entschluss. Aber wir haben keine 25 Jahre mehr, um auf die Klimakrise angemessen zu reagieren. Wir müssen schneller handeln, und da sind auch und gerade die Gesundheitsberufe gefragt. Wenn es eine ärztliche Pflicht ist, Leben zu schützen, auf Gesundheitsgefahren hinzuweisen und gegebenenfalls auch schlechte Nachrichten zu überbringen, dann sollten die Gesundheitsberufe die Ersten sein, die die Bedrohung des Menschen durch den Klimawandel thematisieren.
Und die schlechte Nachricht heißt: Die Klimakrise hat massive Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Wir müssen nicht das Klima retten, sondern uns! Mehr über den Zusammenhang von Klimawandel und Gesundheit zu verstehen und zu kommunizieren ist für mich seitdem ein echtes Herzensanliegen geworden. Welche Auswirkungen hat der Klimawandel konkret auf unseren Körper, unsere Lebensqualität und auch auf unsere seelische Gesundheit? Aber auch: Wie kommen wir vom Wissen ins Tun, von der lähmenden Hoffnungslosigkeit ins strategische Handeln?
Viele Ärzte und Institutionen fangen gerade an, sich aufzustellen, Stellung zu beziehen und ihre Rolle in der Öffentlichkeit neu zu finden. Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), mit den Studierenden von #healthforfuture und auch der Klimastreik am 20. September 2019 vor der Charité in Berlin (und global) waren für mich neue und aufregende Schritte, mich von der „Entertainer“-Ecke weiterzuentwickeln auf eine politische Bühne. So stand ich also zwischen meinem ehemaligen Chef an der Charité, Detlev Ganten, und der nächsten Generation von Ärzt:innen vor dem Brandenburger Tor und durfte zu der vollen „Fanmeile“ sprechen, die nicht für die Nationalmannschaft, sondern wegen einer globalen Krise zusammengekommen war.
Der Deutsche Ärztetag öffnete sich mit dem neuen Präsidenten dem Thema, die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, der Deutsche Pflegetag. Der World Health Summit, Gruppen im Europaparlament und Tagungen des Auswärtigen Amtes zu »One Health« luden mich als Impulsgeber und Referenten ein, plötzlich war ich Botschafter für die Agenda 2030, für globale Gesundheit und für Artenvielfalt. Um alle diese Aktivitäten zu bündeln und effektiver zu sein, gründete ich die gemeinnützige Stiftung „Gesunde Erde – gesunde Menschen“. Klima ist jedenfalls kein Modethema, es ist DAS Thema dieses Jahrhunderts.
Traditionell hält sich die Mehrheit der Ärzte aus der Politik heraus, und wenn sie sich doch einmischt, geht es um Vergütungsfragen oder um ethische Debatten wie Sterbehilfe. Aber dass die fossile Energiepolitik massive Gesundheitsfolgen hat, war bislang eher nicht auf ihrer Agenda. In meiner Ausbildung spielten diese Zusammenhänge kaum eine Rolle, Umweltmedizin wurde belächelt als „Orchideenfach“. Natürlich gab es auch Ausnahmen, die „Ärzte gegen den Atomkrieg“ zum Beispiel. Sie betonten auf einem ihrer Plakate: „Eine Atombombe kann dir den ganzen Tag versauen.“ Gleiches gilt heute für die Klimakrise. Die kann einem das ganze Leben versauen. Klimaschutz als Gesundheitsschutz zu begreifen, bietet eine Perspektive, die sich nicht auf eine Partei, Ideologie oder Altersgruppe bezieht, sondern für jeden von uns wichtig ist.
Politischer zu werden heißt anzuerkennen, dass die Lösung der Probleme nicht in einer medizinischen Innovation zu finden sein wird. Wir können eine überhöhte Körpertemperatur, sprich Fieber, medikamentös senken. Aber gegen eine überhöhte Außentemperatur gibt es keine Tablette, da hilft nur wirksame Politik. Kann das so einen Riesenunterschied machen, ob es ein paar Grad wärmer wird? Ja. Als Arzt weiß ich: Von 41 zu 43 Grad Körpertemperatur ist es ein großer Sprung. Der über die Klinge. Wir hatten schon fast 42 Grad in Deutschland. Natürlich ist mir auch der Unterschied von Außentemperatur und Körperkerntemperatur bewusst. Aber wenn allein in Berlin bei den Hitzewellen 2018 und 2019 viele Hundert Menschen starben, ist die Klimakrise ein medizinischer Notfall. Und positiv formuliert auch die größte Chance, etwas für die Gesundheit im 21. Jahrhundert zu tun.
Vielen im Land ist offenbar noch nicht bewusst: Die nächsten zehn Jahre entscheiden darüber, wie die nächsten zehntausend Jahre laufen, ob auf gut Deutsch die menschliche Zivilisation überlebt. Wir haben in der Medizin weltweit gigantische Fortschritte gemacht. Wir leben so satt, so sicher wie nie zuvor – und sind doch so bedroht wie noch nie. Ich lebe gern im 21. Jahrhundert mit all seinen Möglichkeiten. Es sollte nicht unser letztes gutes Jahrhundert sein. Wir brauchen mehr Fokus auf den Zugewinn an Lebensqualität statt Diskussionen über angebliche Verluste und Verbote. Was antworten wir unseren Kindern und Enkeln, wenn sie uns fragen: „Was habt ihr 2021 gemacht? Ihr wusstet doch genug, hattet das Geld, die technischen Lösungen – was war euch wichtiger?“
Wir sind eines der reichsten Länder der Welt, wir haben eine offene, demokratische Gesellschaft, freie Meinungsäußerung, Presse- und Versammlungsfreiheit. Deshalb haben wir auch eine hohe Verantwortung, nicht nur, weil wir historisch schon jede Menge Treibhausgase freigesetzt haben, sondern auch, weil sich viele Länder fragen: Wie machen es denn die Deutschen? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth hat untersucht, wann soziale Bewegungen Erfolg hatten. Bewegungen, die strikt gewaltfrei waren, waren doppelt so erfolgreich wie die gewaltsamen. Keine einzige gewaltfreie Bewegung ist gescheitert, sobald mehr als 3,5 Prozent der Bevölkerung mobilisiert wurden.
Um etwas zu verändern, braucht es also gar keine absoluten Mehrheiten, Relevanz beginnt unter der Fünfprozenthürde. In Deutschland wären das rund 2,9 Millionen Menschen. Und: Wir brauchen bei aller Ernsthaftigkeit und der Einsicht in die Beschränktheit der eigenen Mittel auch die Zuversicht und die Gelassenheit, dass wir an dieser größten Gefahr der Menschheit immer noch wachsen und etwas ändern können. Ganz im Sinne von Karl Valentin: „Wenn es regnet, freue ich mich. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch!“ Oder, um mit den „Fridays“ zu sprechen: „Klima ist wie Bier – warm ist scheiße.“
Dr. Eckart von Hirschhausen ist Arzt, Kabarettist und Autor. Neben seinen zahlreichen Bühnen- und TV-Auftritten engagiert er sich ehrenamtlich, u.a. in der 2008 von ihm selbst gegründeten Stiftung „Humor hilft heilen“, als wissenschaftlicher Beirat des investigativen Magazins MedWatch sowie in der 2019 gegründeten Initiative „Scientists for Future“.