Unsere Freiheit, aller Freiheit?

Essay
24.10.2022 - Saad Malik

Wir müssen über Entwicklungszusammenarbeit sprechen

Dass Deutschland als Staat und wir als einzelne Menschen „Gutes tun“ wollen ist ein ehrbares Anliegen. Doch unsere Politik in Ländern des Globalen Südens ist kapitalgetrieben und immer noch durchtränkt vom Geist des Kolonialismus. Saad Malik fragt in seiner Intervention: Was bedeutet es, Verantwortung zu übernehmen?

Vor über einem Jahrzehnt saß ich in Seminaren meines Anthropologie-Studiums mit der Vorstellung, später im Ausland zu arbeiten um Gutes zu tun. So wie einige meiner Dozent:innen, die in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit für ein bundeseigenes Unternehmen oder gar mit einem europäischen Modeunternehmen Länder des Globalen Südens „unterstützten“.

Dass diese Unterstützung zu unseren – westlichen – Gunsten geschieht, lernten und erkannten einige von uns angehenden Weltverbesser:innen erst durch die kritisch-kompetente Haltung einer Dozentin an unserem Institut: Sie zeigte uns, wie Wirtschaft und Sozialstruktur zusammenhängen. Denn die Beziehung Westeuropas zum Rest der Welt ist in ihrer Globalisierungsgeschichte vor allem kapitalgetrieben, und der Versuch „Gutes zu tun“ ist dabei immer an Eigeninteresse gebunden.

In Zeiten des Kolonialismus hieß „Gutes tun“, andere Regionen der Welt zu „zivilisieren“, also vermeintlich zum Menschen erziehen zu wollen. Dabei waren die Kolonien von erster Stunde an eine unternehmerische Initiative, um für den eigenen Wohlstand ganze Gesellschaften in ihren Ressourcen auszubeuten. In der Entwicklungszusammenarbeit heißt „Gutes tun“, Wohlstand (beispielsweise durch Freiheit und Fortschritt) in anderen Regionen der Welt aufzubauen. Dabei ist diese Arbeit eine wirtschaftspolitische Initiative, um nach dem umkämpften Ende des Kolonialismus weiterhin – und nun vermeintlich moralischer – an die Ressourcen der betreffenden Regionen zu gelangen. Im Welthandel bedeutet „Gutes tun“, für alle Involvierten Kapital für (den einen) Fortschritt zu generieren. Dabei ist der Welthandel eine wirtschaftspolitische Initiative, die uns vor allem erlaubt hat, eine Service-Ökonomie für Europa aufzubauen: Menschen im Globalen Süden stellen sich uns durch ihre Arbeitskraft zur Verfügung, um unsere Kleidungsstücke, Lebensmittel, IT-System-Wartungen oder gar Altenpflege zu sichern.

Nun kann man einwerfen: Wir haben ja nicht nur von diesen Gesellschaften genommen, sondern auch gegeben. Ja, das stimmt. Modernisierte Infrastruktur, allopathische Medizin, Bürokratie, Demokratie – wir haben viel, aber zumeist ungefragt gegeben. An unser Geben und Weltverbessern sind außerdem stets Bedingungen geknüpft, und sie kommen nicht ohne die Grundhaltung aus, die westliche Idee der Entwicklung sei universal gültig. Diese Idee wird durch unsere Politik und Wirtschaft auf den Trassen der Globalisierung in den Globalen Süden transportiert. Wir gehen ungefragt und selbstverständlich davon aus, dass uns die betroffenen Regionen brauchen und sich gesellschaftlich so organisieren sollten wie wir. Und dabei erwarten wir Dankbarkeit und Konformität – dafür, dass wir unser Geld und unser Wissen zur Verfügung stellen und dafür, dass wir den Anderen den vermeintlich einzigen Weg zum Fortschritt zeigen.

Über ein Jahrzehnt später sitze ich in der ersten Ausgabe meiner Veranstaltungsreihe Glokal handeln zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit in der Urania und höre Menschen sagen: Die Regierungen anderer Länder fragen uns explizit nach Unterstützung an; die Gesellschaften anderer Länder kümmern sich nicht um ihr Kulturgut in Museen; manche Länder haben nun mal korrupte Strukturen und das Geld und möglicher Wohlstand kommt nicht bei der Bevölkerung an; Menschen aus ehemaligen Kolonien wollen ja nach Europa und bleiben nicht als Fachkraft zum Aufbau ihrer Gesellschaften vor Ort.

Meine Antwort darauf: Regierungen fragen uns an, weil wir das Leitbild westlich organisierter Staats- und Regierungsapparate im Sinne von best practice in die Welt importieren – und mehr Konformität schafft mehr Zugang zu Geld. Museen sind eine westliche Erfindung, um Kultur zu archivieren, und viele Gesellschaften haben andere Traditionen, ihre Kultur zu überliefern – das Bauen von Museen im Ausland dient eher der Arbeit westlicher Expert:innen und dem Zugang westlicher Tourist:innen zu lokaler Geschichte und Kultur. Korrupte Menschen sitzen unter anderem deshalb an der Macht in ihren Ländern, weil die westliche Welt lange genug im Eigeninteresse Geschäfte mit ihnen gemacht hat, und somit leicht Geld fließen lassen hat. Menschen aus dem Globalen Süden kommen nach Europa, weil sie durch das Eingreifen des Westens in ihr Leben – sprich durch Kolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit, Welthandel – eng mit uns verbunden sind und ihr Glück hier probieren. 

Damit will ich auch sagen: Ich glaube fest daran, dass die Menschen in der Entwicklungszusammenarbeit mit guten Intentionen ihre Arbeit machen; dies will ich ganz aufrichtig niemandem absprechen. Nur müssen wir der Wahrheit ins Gesicht sehen und uns damit auseinandersetzen, wie unsere deutsche Vergangenheit unsere globale Gegenwart und Zukunft gestaltet. Würden wir das tun, dann müssten wir uns jetzt fragen, wie wir das Paradigma der Entwicklung in Entwicklungszusammenarbeit, Außenpolitik, aber auch Außenwirtschaft umgestalten können: Wie übernehmen wir Verantwortung dafür, dass wir uns als Idealbild von Mensch und Gesellschaft aufgedrängt haben? Wie übernehmen wir Verantwortung dafür, dass wir wirtschafts- und gesellschaftspolitische Abhängigkeiten zwischen Geber- und Empfängerstaaten samt ihrer Gesellschaften geschaffen haben? Wie übernehmen wir Verantwortung dafür, dass die Freiheiten, die wir uns hier schaffen und bewahren, unmittelbar mit den Unfreiheiten des sogenannten Globalen Südens zusammenhängen?

Ich bekomme mit, wie Menschen aus Namibia an alten deutschen Namen für sich oder ihre Kinder festhalten; wie Menschen aus Marokko mit Stolz von ihrem französischen Pass und Lebensstil erzählen;  wie sich Menschen aus pakistan durch ein Studium in Großbritannien geadelt fühlen; wie sich Menschen aus den Philippinen auf ihre US-amerikanisch geprägte Nationalkultur stützen, da die USA die Philippinen von der spanischen Kolonialbesetzung befreite (und dann absurderweise selbst kolonisierte). Ich bekomme mit, wie Menschen aus ehemaligen Kolonien keine für sie traditionelle Kleidung am Arbeitsplatz tragen aus Scham, als unprofessionell zu gelten oder einen Teil ihrer Esskultur ablegen aus Scham als „unzivilisiert“ zu gelten.

Können Sie begreifen, welch ein Freiheitsraub dies ist, der Idee verhaftet zu bleiben, nicht genug Mensch, nicht genug Gesellschaft zu sein? Können Sie begreifen, welch eine Freiheitsminderung es ist, die eigene Kultur und Geschichte nur dann und nur so viel als wertvoll für die Menschheitsgeschichte verstehen zu dürfen, wie westliche Gesellschaften dies zulassen?

Wir alle, weltweit, sind noch vom kolonialen Geist besetzt. Der Wissenschaftler Aníbal Quijano hat dies in seinem Konzept Kolonialität der Macht treffend dargestellt. Große Teile der ehemaligen Kolonialgesellschaften denken immer noch, sie seien ganz simpel ausgedrückt: besser. Und große Teile der kolonisierten und sich heute „im Entwicklungsstadium“ befindlichen Gesellschaften stimmen letztlich zu, auch um an der westlich organisierten Globalgemeinschaft teilzuhaben.

Man kann diese Sichtweise vereinfachend finden. Oder einwerfen, dass auch andere Regionen dieser Welt so einiges anrichten und dass ohne die westliche Einmischung viel Gutes in der Welt wegfallen würde. Dass man die Freiheiten, die wir bieten, anerkennen muss. Aber ich glaube, wir müssen uns fragen, was uns die Widerstände gegen die Kritik der Entwicklungszusammenarbeit über unser eigenes Selbstverständnis zuflüstern.

Ich lade Sie ein, bei unserer Veranstaltungsreihe Glokal handeln mit mir und dem Panel mitzudiskutieren. In insgesamt sechs Ausgaben beleuchten wir jeweils thematisch fokussiert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Diskutieren Sie mit, ich freue mich auf Sie!

Saad Malik ist Sozial- und Kulturanthropologe, engagiert sich in der (entwicklungs-)politischen Bildungsarbeit und moderiert seit Juni 2022 die Reihe Glokal handeln.

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