Warum Europa?

Nachdem es auf unserem Kontinent über Jahrhunderte schreckliche Kriege gab, ist es für uns heute selbstverständlich, dass zwischen den EU-Staaten Konflikte nicht mehr militärisch ausgetragen werden. Dr. Gregor Gysi erläutert, warum er der Meinung ist, eine falsche Politik der EU-Institutionen stelle das Bekenntnis zu Europa auf eine harte Probe.
Die Idee der Montanunion, einer der Vorgängerinstitutionen der EU, war es, die Kriegsindustrien nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergemeinschaften, um den innereuropäischen Frieden zu sichern. Dies wurde insbesondere von Deutschland und Frankreich vorangetrieben, angesichts der Erfahrung von zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten. Zumindest zu diesem Zeitpunkt war die europäische Einigung ein Friedensprojekt, und diesen Aspekt sollten wir nicht unterschätzen.
Zudem ermöglicht der im Rahmen der europäischen Einigung erreichte Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU bzw. des Schengen-Raums eine Reisefreiheit, die wir im Alltag spüren und die wir nicht missen möchten. Man stelle sich vor, es fände beispielsweise ein Spiel der Champions-League im Fußball zwischen Bayern München und Paris St. Germain statt, und die Fans müssten für das Auswärtsspiel erst ein langwieriges Visa-Verfahren durchlaufen, um einreisen zu dürfen. Der Jugend von heute wäre das nicht zu vermitteln, viele junge Leute können sich ein Leben ohne die europäische Integration kaum vorstellen.
Allerdings stellt die falsche Politik der EU-Institutionen das Bekenntnis zu Europa auf eine harte Probe: Denn Europa darf kein neoliberales Elitenprojekt sein – aus der Perspektive beispielsweise der südeuropäischen Jugend gibt es erstmal gute Gründe, die europäischen Institutionen abzulehnen, die ihren Ländern eine knallharte Einsparpolitik aufgezwungen haben.
Wenn die EU eine Zukunft haben und nicht weiter den Rückhalt in den Bevölkerungen verlieren will, muss sie sich grundlegend ändern, quasi vom Kopf auf die Füße stellen. Die Einsparpolitik und das Fehlen verbindlicher einklagbarer sozialer Grundrechte lassen der EU die Luft ausgehen – die Krise der EU ist vor allem eine soziale Krise.
Eine EU auf neoliberaler Grundlage zerstört die europäische Idee. Deshalb muss die EU solidarisch, sozial, demokratisch, ökologisch nachhaltig, transparent, unbürokratisch gestaltet und entmilitarisiert werden. In all diesen Punkten muss die europäische Politik einen anderen Weg einschlagen, als sie ihn derzeit geht. Dies ist auch deshalb notwendig, weil angesichts global agierender Konzerne und weltweiter Verflechtungen der Ökonomien eine Antwort im nationalen Rahmen keine Chancen hat.
Es ist gerade auch im Interesse des unteren Drittels der Gesellschaft, dass es auf europäischer Ebene soziale Garantien und Mindeststandards gibt, denn sonst wird der brutale Wettbewerb kapitalistischer Nationalökonomien auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen. Im Gegensatz zu heute muss die EU wieder mit sozialer Wohlfahrt verbunden werden. Sie kann nur bestehen bleiben, wenn sie von den Mehrheiten der Bevölkerungen aller Mitgliedsländer getragen wird.
Ab 30.4.2019 lädt Dr. Gregor Gysi zur Gesprächsreihe „Warum Europa?“ Gäste aus Politik und Medien in die Urania Berlin ein. Sein erster Gast ist Georg Mascolo.
Dr. Gregor Gysi, geboren 1948, ist gelernter Facharbeiter für Rinderzucht und Rechtsanwalt. Er ist geschieden und hat drei Kinder. Ende 1989 bis 1993 war er Vorsitzender der PDS. Von 1990 bis 2002 und seit 2005 wurde er direkt in den Bundestag gewählt, bis 2015 als Fraktionsvorsitzender von PDS bzw. DIE LINKE. 2002 war er Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin.